Die Philatelie bei Walter Benjamin und im Alltag 2009.
Zugleich ist Benjamins Interesse von einer anderen Leidenschaft geprägt, die bis heute ein Nebenzweig der Philatelie ist, nämlich das Sammeln von Briefen und Postkarten, das auch in der „Berliner Kindheit“ erwähnt wird. „Wer Stapel alter Briefschaften durchsieht“, so heißt es zu Beginn der „Briefmarken-Handlung“, „dem sagt oft eine Marke, die längst außer Kurs ist, auf einem
brüchigen Umschlag mehr als Dutzende von durchgelesenen Seiten. Manchmal begegnet man ihnen auf Ansichtskarten und weiß dann nicht, soll man sie ablösen oder soll man die Karte bewahren wie sie nun einmal ist, wie das Blatt eines alten Meisters, das auf der vorderen und der hinteren Seite zwei verschiedene gleich wertvolle Zeichnungen hat?“
In ihrer geisteswissenschaftlichen Abteilung widmet sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Mittwochsausgabe (14.10.2009, Seite N4) dem Aspekt des Briefmarkensammelns bei Walther Benjamin. Der maßgebliche Text aus dem Benjamin’schen Werk ist natürlich die Briefmarken-Handlung aus seinem Buch Einbahnstraße bzw. zuerst in einer Ausgabe der Frankfurter Zeitung aus dem Jahr 1927. Die Autoren des Artikels, Detlev Schöttker und Steffen Haug, gehen aber über den eigentlichen Text hinaus und beleuchten den Kontext, u.a. die Einflüsse des Buches „Le paysan de Paris“ von Louis Aragon, Benjamins Korrespondenz mit Siegfried Kracauer zum Thema Philatelie und auch die oben zitierten Überlegungen zum Medium Postkarte, wobei sich Absatz auch speziell mit dem Phänomen der Poststempel befasst. Zuletzt erwähnen sie ein schönes Detail aus einem Manuskript zur „Briefmarken-Handlung“:
„Unter ihnen befindet sich eine Passage mit der Beschreibung einer Marke, die er vermutlich aus Moskau kannte, als er im Winter 1926 – mit dem Manuskript der „Einbahnstraße“ in der Tasche – seine großen Liebe Asja Lacis besuchte, der er das Buch gewidmet hat. Die Marke gehört zu einer dreiteiligen Serie mit dem Titel „Kräfte der Revolution“, deren Porträts auf Skulpturen von Iwan Schadr zurückgehen. Sie zeigen einen Bauern, einen Rotarmisten und einen Arbeiter, dem Benjamins eigentliche Aufmerksamkeit galt.“
Es ist sehr bedauerlich, dass die Philatelie mittlerweile zu einem Nischenphänomen geworden, den Nischenphänomen bedeutet leider auch Nischenmarkt und damit permanente Existenzbedrohung besonders in schlechten Zeiten. Wobei die Zeiten angesichts der fixen Ausrichtung auf Daueroptimierung, Einsparungsvolumina und Wachstumsraten immer schlecht sind. Der Postdienst ist tatsächlich eine Dienstleistung. Die Aufgabe der Briefmarke als national-kulturelles Repräsentationssymbol verwässert mehr und mehr in einem relativ freiem ökonomischen Spiel, was zu so absurden Phänomenen wie personalisierbaren Marken führt.
Am Schalter erfährt die Briefmarke ohnehin eine Marginalisierung und wird häufig durch Funktionsaufkleber ersetzt, die philatelistisch durchaus interessant sein können, deren Semantik sich aber tatsächlich nur noch darauf bezieht, dass bezahlt wurde. Semiotisch sind dieser Aufkleber weitgehend uninteressant. Das Abdrängen der Marken auf eine reine Produktionsschiene für den Sammlermarkt, die als Nebengeschäft des Postunternehmen läuft, für den eigentlichen Postverkehr aber keine Rolle spielt, führt zu einer allgemeinen philatelistischen Desensibilisierung. Das verringerte Brief- und Postkartenaufkommen (besonders bei denen im FAZ-Artikel erwähnten „Computer-Generationen“) spielt sicher zusätzlich in diese Entwicklung hinein.
Dazu kommen die Folgen der Automatisierung der Briefbeförderung, die mit der Ersetzung der Ortsstempel eindeutig zu einer Verarmung der Belegkultur beigetragen hat. Das Karten und Marken den Empfänger nicht selten ramponiert erreichen, ist ein weiterer Aspekt, der die Freude an der Philatelie nennenswert eintrüben kann. Wenn eine persönliche Botschaft durch einen scheußlichen Laserstempel unlesbar gemacht wird, wie es die französische Post perfektioniert hat, nimmt das jede Lust, eine Karte zu schreiben.
Die philatelistische Desensibilisierung wirkt also doppelt gerichtet und zwar auf die Postunternehmen mit ihren optimierten Beförderungsprozessen und die Postnutzer mit ihren optimierten Alltagsstrukturen. In beiden bleibt wenig Raum und Ruhe für die Auseinandersetzung mit der Briefmarkenkultur, die ganz offensichtlich ein Anachronismus ist. Aber ein sehr schöner und erhaltenswerter.

Die Briefmarke Neukölln - Eine von wenigen Briefmarkenhandlungen, die sich in Berlin noch finden lassen. Das Schild über dem Eingang vermag dabei typographisch zu überraschen.
Ein anderes Problem liegt in der Sammlergemeinschaft selbst: Die weitreichende Fixierung auf die ökonomische Facette des Briefmarkensammelns, die Katalogwertmarkierungen über alle anderen Facetten des Sammelns und Genießens von Briefmarken stellt, wirkt auf Außenstehende nicht sonderlich motivierend, zumal das Missverhältnis zwischen dem Überangebot und der mangelnden Nachfrage die Philatelie für Neueinsteiger zu einer denkbar schlechten Geldanlage werden lässt, die sehr viel Fachkenntnis bei meist sehr geringer Rendite erfordert. Schließlich präsentiert sich z.B. auf der Briefmarkenbörsen-Tournee ein großer Teil der Szene als geschlossener Zirkel, der wenig Interesse hat, andere Blickwinkel als die etablierten zu akzeptieren. Oft sieht man sich entweder lockeren Geschäftsleuten gegenüber, denen die Ware, die sie anbieten, weitgehend gleichgültig und Begeisterung fremd ist, oder eher verschlossenen Altorthodoxen, die einen freudvollen Umgang mit dem Medium Briefmarke grundsätzlich abzulehnen scheinen.
Wer als Außenstehender die drei führenden deutschen Fachblätter (Deutsche Briefmarkenzeitung, Briefmarkenspiegel, Deutsche Briefmarkenrevue) durchsieht, den kann es durchaus schütteln angesichts der nicht selten anzutreffenden journalistischen Dürftigkeit der Aufbereitung und der wenig einfallsreichen Ausgestaltung der Themen. Es springt wahrlich kein Funke über. Das Stamp Magazine wirkt weitaus solider, ist aber sehr auf Großbritannien fixiert und wie überhaupt ausländische Fachzeitschriften in Deutschland kaum bis nicht erhältlich. Den Schritt in eine zeitgemäße Selbstdarstellung haben insgesamt nur sehr wenige Vetreter sowohl des Briefmarkenhandels wie auch der Philatelie bisher erfolgreich vollzogen. Auch hierin liegt eine Ursache für die geringe Popularität philatelistischer Themen.
Was der Zunft der Philatelisten in der öffentlichen Wahrnehmung ebenfalls leider generell abzugehen scheint, ist der intellektuelle Anspruch im Umgang mit den postalischen Medien, wie ihn Walter Benjamin pflegte und wie er durch die Postmoderne durchgewaschen durchaus in spielerischerer, aber genauso origineller und tiefgründiger Form auch heute noch möglich wäre. Dafür scheinen schlichtweg die Akteure zu fehlen. Selbst bei großer Fantasie ist schwer vorstellbar, woher sie kommen sollen. Das zwanzigste Jahrhundert hat die Briefmarke entgegen der Prophezeihung Benjamins überlebt und auch 15 Jahre Internet haben den Brief, die Postkarte und die nassklebende Marke nicht verschwinden lassen. Aber: Erreichte den Hof mit Müh und Not – möchte man sagen. Denn das, was heute sieht, wirkt nur mehr als Nachhall. Schade. Und Grund genug nassklebend zu frankieren und Handstempel am Schalter einzufordern, solange die Möglichkeit dazu besteht. Als lebensverlängerende Maßnahme also für einen der schönsten kulturellen Anachronismen, der uns aus dem 20. Jahrhundert überliefert ist. Und vielleicht auch im Andenken an einen der größten Kulturtheoretiker Europas.
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